Mein erster mehrtägiger Lauf mit Pilgerwagen ist geschafft! Gelaufen bin ich über die Nordroute des Sigwardsweges von Minden (Westfalen) nach Idensen (Niedersachsen). In Summe immerhin 91 km. Wie schon bei der Wanderung über die Südroute vor zwei Wochen, blieb für die Nacht corona-bedingt nur ein Biwak am Wegesrand.

„Bringe diese geheimnisvolle Schatulle vom Dom zu Minden zur Sigwardskirche in Idensen, Pilgerwagennomade! Starte zur zwölften Stunde beim Dom-Geläut, folge stets dem Sigwardsweg, übergieb die Schatulle zum Abendgebet am Folgetage! Bedenke: Eine Pest namens ‚Corona‘ wütet gar grausam in der Welt. Meide Menschen, Herbergen und – die von dir so geschätzten – Bierschänken!“ Mit Imperativen nicht eben geizend, schickte mich mein Mittelsmann auf die Reise.

So spannend hätte der Hintergrund meiner Tour sein können, die Realität war leider ungleich profaner. Zwei corona-bedingt ausgefallene Laufveranstaltungen verlangten nach Ersatz: Die Harzquerung und der Hannover Marathon. Da der Letztgenannte noch virtuell als #stayathomemarathon gelaufen werden konnte, wollte ich jeweils ohne Pausen durchlaufen, um eine passable Zeit zu erreichen. Lies hier, wie es mir unterwegs mit meinem Ziehwagen ergangen ist.

Die Tour in Zahlen und Fakten

Tage: 2 | Personen: 1 | Distanz: 91 km | Höhenmeter: 450 m Anstieg, 410 m Abstieg | Pilgerwagen-Gewicht: 20 – 25 kg | Übernachtung: Outdoor/ Biwak

Der Weg

Der Sigwardsweg ist ein 2009 eingerichteter Pilgerweg, Namensgeber ist der Bischof Sigward von Minden († 1140). Als Rundweg mit einer Gesamtlänge von 170 km führt er vom Mindener Dom zur Sigwardskirche in Idensen und zurück. Hin- und Rückweg verlaufen über unterschiedliche Strecken. Die diesmal von mir gewählte Nordroute ist mit offiziell knapp 91 km und 400 Höhenmetern im An-/ Abstieg länger, aber deutlich weniger profiliert.

Wie schon auf der Südroute, passierte ich zahlreiche Kirchen, Kapellen und Klöster. Dennoch hat die Nordroute einen anderen Charakter. Während ich auf der Südroute überwiegend im Wald unterwegs war, führt die Nordroute eher durch Felder, Wiesen und Ortschaften. Prägend ist zudem das Element Wasser: Mehrere Abschnitte verlaufen in der Nähe der Weser und entlang zahlreicher Seen.

Tag 1

DOOOONG! DOOOONG! Als folgsamer Pilgerwagennomade beginne ich Läufe nicht nur beim Schuss einer Startpistole. Auch das kräftige Glockengeläut des Mindener Doms versetzt mich in Bewegung. 12 Uhr Mittags. Zeit genug, um bis Sonnenuntergang einen Marathon zu laufen, selbst wenn ich einen Anhänger ziehe. Mit solchen Gedanken beruhigte ich mich, doch Zweifel blieben. Schließlich bin ich nie länger als 11 km mit Pilgerwagen gelaufen und wusste auch nicht, wie pilgerwagenfreundlich die Route sein würde.

Der Sigwardsweg empfing mich mit offenen Armen. Schnell hatte ich die Mindener Innenstadt verlassen und folgte einem Radweg entlang der Weser. Bis Kilometer 10 genoss ich in flottem Lauftempo abwechslungsreiche Umgebung. Besonders beeindruckt hat mich das Wasserstraßenkreuz, hier überquert seit 1915 der Mittellandkanal in einer Trogbrücke die Weser. Dann überraschte mich der Sigwardsweg mit rumpeligen Wiesenpfaden, die mich stark bremsten und viel Kraft kosteten. Zunächst 3 km am Rand des Naturschutzgebietes Heisterholz. Nach einem kurzen Asphaltstück in Petershagen, noch einmal 4 km entlang der Weser. 20 km waren geschafft – und ich auch.

Weiter ging es im steten Wechsel durch Naturschutzgebiete, ausgedehnte Felder und beschauliche Ortschaften. Schließlich folgte ich wieder der Weser, teilweise über die von mir so „geliebten“ Wiesenpfade. Ab Kilometer 34 warteten nur noch Asphalt und gut befestige Wege auf meinen Anhänger und mich. Dennoch war dieser Laufabschnitt hart, die Wiesenpfade hatten nicht nur körperliche Kraft gekostet, sondern auch einiges an mentaler Stärke. Nach knapp 45 km machte ich – rechtschaffen müde – Feierabend.

„Das war gut getan! Bis kurz vor Kloster Schinna hast du es geschafft, Pilgerwagennomade. Nun stärke dich aus deinen Vorräten, auch ein Bier sei dir gegönnt – denn ich bin sicher, dies wirst du nicht vergessen haben. Dann richte dir ein einfaches Nachtlager im Wald und bette dich zur Ruhe!“. Auch wenn mein Mittelsmann diese Worte nur in meiner Fantasie sprach, er konnte sie einfach nicht lassen, die Imperative. Mit diesen Gedanken und den Erinnerungen an die Erlebnisse des Tages im Kopf, das Klopfen eines Spechtes im Ohr, fiel ich schon vor Einbruch der Dunkelheit in den Schlaf.

Falls du an der sportlichen Leistung interessiert bist

Am ersten Lauftag bin ich 44,8 km gelaufen und habe dafür 5:38:40 gebraucht. Den Marathon bin ich in 5:29:20 gelaufen. Beide Zeiten sind brutto gemessen, Zwischenstopps für Verpflegung, Fotos, die Suche nach dem richtigen Weg und ähnliche Anlässe sind also enthalten.

Tag 2

„Pilgerwagennomade! Es wird Zeit, mach dich auf den Weg!“ — „Schau mal auf deine Turmuhr, Mittelsmann! Es hat noch nicht zur sechsten Stunde geschlagen! Außerdem hat es nur 3 Grad bei dichtem Nebel. Ich werde mein warmes Nachtlager noch nicht verlassen! Und nun gib Ruhe!“

Um 8 Uhr hatte sich der Nebel verzogen, die Sonne etwas Kraft entwickelt. Nachtlager räumen, Morgentoilette, Frühstück, Gepäck im Pilgerwagen verstauen: Eilig hatte ich es nicht, bremste mich doch die Sorge, wie schwer mir heute die ersten Schritte fallen würden. Um 10 Uhr fiel dann der virtuelle Startschuß für meine persönliche Version des #stayathomemarathons. Überraschenderweise konnte ich sofort ein flottes Tempo anschlagen und strahlte mit der Sonne um die Wette. Nach knapp 5 km erreichte ich Schinna mit seinen alten Kloster-Anlagen. Anschließend führte ein von Bagger-Ketten zerpflügter Weg durch eine Kies-Gewinnungsanlage. Hier kam ich teilweise nur im Schritttempo voran, zudem musste ich über Metallstufen ein Förderband überklettern. Wieder folgte ich der Weser und freute mich, dass der Fluss mir heute befestigte Wege bot. Erst kurz vor der Schleuse Schlüsselburg wartete doch noch ein zugewucherter Wiesenpfad auf mich. Glücklicherweise konnte ich nach wenigen 100 Metern auf den parallel verlaufenden Radweg wechseln.

Kurz vor dem alten Scheunenviertel in Schlüsselburg begegnete mir eine Läuferin, die ebenfalls am #stayathomemarathon teilnahm. Ein bewegendes Gefühl zu wissen, dass zeitgleich hunderte, vielleicht einige tausend Läufer räumlich getrennt, aber in Gedanken vereint, dem Corona-Virus trotzten. Weiter ging es entlang der Weser über die Staustufe Schlüsselburg, durch das sich anschließende Naturschutzgebiet gleichen Namens, vorbei am Rittergut Neuhof bis ins Örtchen Heimsen. Hier verabschiedete ich mich nach 19 gelaufenen Kilometern endgültig von der Weser und – so hoffte ich – auch von den Wiesenpfaden.

Nun führte mich ein leicht profilierter Weg durch das Naturschutzgebiet Klosterforst. Am Ortsrand von Loccum empfingen mich zunächst eine Windmühle, dann die beeindruckenden Klosteranlagen. Weiter ging es durch den überraschend trailigen Klosterwald. Es folgte ein 3 km langer, nach und nach steiler werdender Anstieg durch Felder, kleine Ortschaften und vorbei am Dinopark Münchehagen. Ich wechselte ins Gehtempo und gönnte mir eine Verpflegungspause – 31 km waren geschafft.

Frisch gestärkt nahm ich den Abstieg nach Bad Rehburg und den Weg über den Wölpinghauser Berg in Angriff – mal laufend, mal gehend. Ab Wölpinghausen folgte der Weg für einige Kilometer einer Straße. Bei km 38 wurde es ein letztes Mal trailiger, in einem Waldstück überquerte ich den Düdinghäuser Berg. Bald waren die letzten Höhenmeter geschafft, nur noch flache 6 km zu laufen. Anfangs durch Wald, später durch Felder und Wiesen führte mich der Weg zur Sigwardskirche. Dort sank ich erschöpft, aber glücklich, erst in die Arme meiner dort wartenden Frau, dann auf eine Bank. Gemeinsam genossen wir den Blick auf die wunderschöne Kirche und nistende Störche.

„Du hast dich als Bote bewährt, Pilgerwagennomade! Halte dich bereit, künftig auch längere Strecken zu bewältigen…“ — „Können wir gern machen, Kollege Mittelsmann! Mein Pilgerwagen und ich freuen uns auf weitere Abenteuer.“

Für sportlich Interessierte

Am zweiten Lauftag bin ich 46,2 km gelaufen und habe dafür 6:12:06 gebraucht. Den Marathon bin ich in 5:47:41 gelaufen. Beide Zeiten sind wieder brutto gemessen.

Wetter

Zu den geplanten Laufzeiten wurden Temperaturen zwischen 7 und 16 Grad in Aussicht gestellt: Perfektes Laufwetter, bei dem leichte Kleidung ausreicht! Nachts sollte es auf Temperaturen knapp über den Gefrierpunkt abkühlen. Ich benötigte also einen gut isolierenden Schlafsack, einen Biwaksack und eine Isomatte sowie wärmende Kleidung. Dank Pilgerwagen konnte ich diese Ausrüstung zusätzlich zu Wechselkleidung, Getränken und Verpflegung für zwei lange Lauftage mitnehmen.

An-/ Abreise

Diesmal konnte ich die Luxus-Option wählen: Meine Frau war so lieb und hat mich samstags zum Start an den Mindener Dom gefahren und sonntags am Zielort Idensen wieder abgeholt. Da sich mein Wanderanhänger problemlos in unserem Kleinwagen verstauen lässt, waren An- und Abreise unspektakulär.

Fazit

#stayathomemarathon

Der virtuelle Lauf war ein besonderes Erlebnis. Unterwegs konnte ich mit zwei anderen Teilnehmern einige Worte wechseln. In sozialen Netzwerken erfuhr ich später von weiteren Läufern, dass sie mich unterwegs gesehen hatten. Ich schätze diesen Ersatz zum „echten“ Hannover-Marathon, aber es bleibt eben ein Ersatz. Virtuelle Läufe können die Erlebnisse und Erfahrungen eines „echten“ Lauf-Events nicht ersetzen. Ich respektiere die Event-Absagen als sinnvoll und notwendig, freue mich aber sehr auf die Zeit, wenn Lauf-Veranstaltungen nach oder mit Corona wieder möglich sind.

Mehrtägiges Laufen mit Pilgerwagen

Es ist Jahre her, dass ich erste Berichte über Laufreisen mit Pilgerwagen las. Seit dem Träume ich davon, so etwas auch zu erleben. Nun ist dieser Traum Realität geworden, wenn auch zunächst nur für zwei Tage. Für mich war diese kleine Reise ein fantastisches Erlebnis! Sicher werde ich künftig weitere Laufreisen mit Wanderanhänger unternehmen.

Dabei gilt es für mich auszuloten, welche Distanzen ich laufen kann und wie ich Pausen sinnvoll einplane. Diesmal bin ich die Tagesdistanzen durchgelaufen, habe mir nur kurze Stopps gegönnt, weil ich eine passable Marathon-Zeit erreichen wollte. So wurden die letzten Tages-Kilometer dann doch recht zäh. Mit mehreren, über den Tag verteilten Pausen, wäre der Reise-Charakter ausgeprägter, der Laufspaß noch größer. In meiner aktuellen Laufform wären dann 40 bis 50 km pro Tag gut machbar. Für längere Lauf-Reisen müsste ich zudem nach zwei bis drei Lauftagen jeweils einen Pausentag mit geringen Laufumfängen einplanen.

Wenn ich mit Rucksack wandere oder einen Tag ohne Gepäck laufe, bevorzuge ich Mittelgebirgstouren, gerne mit einigen Single-Trails. Für Läufe mit Wanderanhänger empfehlen sich dagegen besser laufbare Strecken. Flach oder nur leicht profiliert. Überwiegend Asphalt und befestigte Wege. Die Nordroute des Sigwardsweges war auch in dieser Hinsicht eine gute Wahl – von den Wiesenpfaden mal abgesehen. Für künftige Laufreisen bieten sich Radwege, insbesondere Flußradwege an. Oder ich stelle mir eine passende Route mit einem Outdoor-Routenplaner zusammen. Mal schauen, über welche Wege mich meine nächste Laufreise führt.

„Da finde ich schon etwas Schönes für dich, Pilgerwagennomade!“